TRANSLATION WORKS IN PROGRESS

Naverok

Vorwort von Xavier Koller

Yilmaz Güney hatte ich persönlich nie kennen gelernt. »Sürü« war meine erste Begegnung mit ihm – über die Leinwand. Dessen starke Bilder blieben in meinem Gedächtnis hängen. Da war ein starker, kluger Kopf am Werk, dachte ich mir. Cactus Film hatte den Streifen damals in der Schweiz in die Kinos gebracht. Als ich später erfuhr, dass der Urheber des Werks, Yilmaz Güney, im Gefängnis saß und Zeki Ökten den Film nach seinen Anweisungen gedreht hatte, war mein Interesse an Güney vollkommen erwacht. Wer war dieser Mann? Wie war es möglich, einen derart starken Film aus der Gefangenschaft heraus zu kreieren und zu kontrollieren? Wie schuf er die Voraussetzungen dafür, dies alles möglich zu machen? Wo kam dieser Güney her? Was war seine Vergangenheit? Was war sein Verbrechen, für das er neunzehn Jahre im Gefängnis sitzen sollte? Wer waren seine Verbündeten, seine kreativen Mitarbeiter, denen er das Vertrauen gab, diesen Film zu drehen? Viel konnte ich damals noch nicht in Erfahrung bringen, denn Publikationen in deutscher Sprache fanden sich noch nicht.

Dann kam »Yol«, gedreht von Şerif Gören. Dieser Film hatte mich noch stärker reingenommen als »Sürü«! Nachdem »Yol« in Cannes gewonnen hatte, gab es endlich erste Informationen über Yilmaz Güney. So wurde bekannt, dass er »Bayram«, das Opferfest, für das die Gefangenen für einige Tage ihre Familien besuchen durften, wie in »Yol« dargestellt, für seine eigene Flucht aus dem Gefängnis reproduzierte. Genial.

Diese Geschichte über Yilmaz Güneys persönliche »Yol« ins Exil erzählt Edi Hubschmid in seinem sehr persönlichen Buch ausführlich und eindrücklich. Er macht einsehbar, mit welchem kreativen Kalkül Güney arbeitete, mit welcher schöpferischen Kraft er die ihm aufgebrummte Strafe erduldete. Wie er den Film »Yol« strategisch nutzte (meine persönliche Einschätzung), um sich ein Leben außerhalb der Gefängnismauern zu sichern. Sein früher Tod nach »Duvar« (»Die Mauer«, »Le mur«) gab mir den Gedanken, er müsse sich gesagt haben: Lieber in Freiheit sterben als in Gefangenschaft verenden.

1989 bei den Vorbereitungen zu meinem Film »Reise der Hoffnung« vermittelte Edi Hubschmid uns Kontakte in Istanbul. Unter anderem trafen wir Şerif Gören, Tuncay Akçu und – vor allem – Necmettin Çobanoğlu, den späteren Hauptdarsteller meines Films. Ihn hatte ich entdeckt, als ich mir »Yol« im Hinblick auf mögliche Darsteller noch weitere Male anschaute. Şerif sagte mir dann, er habe bei »Yol« primär gar nicht als Schauspieler gearbeitet, sondern als Aufnahmeleiter. Nur weil der für die Rolle vorgesehene Darsteller nicht zum Dreh kam, wies Şerif Necmettin an, als Schauspieler einzuspringen. Eine für mich glückliche Fügung, wie sich zeigte.

Şerif Gören, Feride Cicekoglu und ich saßen einige Tage in einem Hotel in Alanya, welches Ferides Ehemann Zafer als Architekt entworfen hatte. Wir sprachen über mein Treatment und arbeiteten an der Struktur des möglichen Drehbuchs. Da mir die türkische Kultur fremd war, bat ich Şerif, jene Sequenzen, die in der Türkei spielten, zu drehen, während ich den restlichen Teil in Italien und der Schweiz betreuen würde. Er war damit einverstanden.

Ich habe Şerif mit Fragen über Güney gelöchert, aber er war immer sehr zurückhaltend in seinen Äußerungen. Kurz vor unserem Dreh habe ich dann herausgefunden warum: Şerif war frustriert und sauer auf Yilmaz Güney. Der habe ihn, Şerif, und seine Arbeit an »Yol« kaum gewürdigt, sondern sich alle Lorbeeren auf den eigenen Kopf gesetzt. Als Folge davon stellte mir Şerif ein Ultimatum: »Entweder mache ich den ganzen Film, oder ich steige aus. Ich will nicht, dass mir das Gleiche nochmals passiert!«

Nun war ich echt in der Klemme, moralisch wie rechtlich. Die Produktion war basierend auf meinem Treatment und mit meinem Namen als verantwortlichem Regisseur finanziert. Darum konnte ich leider Şerif den Film nicht überlassen und war stattdessen gezwungen, mein Ideal aufzugeben, in den sauren Apfel zu beißen und in einer Sprache zu drehen, die mir fremd war.

Schade für Şerif, ich hätte auch ihm den nicht erwarteten Erfolg gegönnt. Dadurch hat Yilmaz Güney Jahre nach seinem Tod auch meine Arbeit und mein Leben massiv beeinflusst.

Xavier Koller

Einleitung von Edi Hubschmid

Als noch junger Filmproduzent war ich in den Jahren 1980 und 1981 öfters in der Türkei unterwegs und durch die Koproduktion mit der Güney-Film, Istanbul, in Kontakt mit der türkischen Filmszene – insbesondere mit Yilmaz Güney, der zu jener Zeit im Gefängnis von Isparta saß. Wie schon bei »Sürü« (1978) und »Düsman« (1979) entwickelte Yilmaz Güney ein ausgeklügeltes System, um aus dem Gefängnis heraus Filme zu realisieren. Beim Projekt »Yol« planten wir von Beginn weg eine intensive Zusammenarbeit. Nach der Fertigstellung des Films wurde der Film für elf Jahre in der Türkei auf den Index gesetzt und verboten. Es war für mich daher nicht ratsam, wieder in die Türkei zu reisen.

Unsere damals junge Firma Cactus-Film AG, eine Kooperative, die aus der Aufspaltung des Filmkollektivs Zürich 1979 entstanden war, strebte zu der Zeit ein kompromissloses Engagement für den Kinoautorenfilm an. Auch wenn uns als Schweizer Firma der heimische Film natürlich am Herzen lag, versuchten wir auch über die Sprach- und Landesgrenzen hinweg tätig zu sein. So galt innerhalb der damaligen linken Filmszene unser Hauptinteresse denn auch jenen Filmautoren, die politisch wie gesellschaftlich relevante Themen realisierten. Dieser kulturelle Austausch wurde bewusst gesucht. Die Solidarität, die dabei entstand, entsprach unserem inhaltlichen Credo.

Es sind drei Motive, die mich veranlasst haben, die folgenden Aufzeichnungen, Fotografien und Dokumente in einem Buch mit Bildern zusammenzufassen:

  1. Meine persönlichen Erinnerungen an einen außerordentlichen Künstler, der mich mit seiner unbändigen Schaffenskraft und seiner mutigen Haltung sehr beeindruckt hat. Ich bin noch immer traurig, dass er so früh von uns gehen musste. Im Jahre 2017 wäre Yilmaz Güney achtzig Jahre alt geworden.
  2. Ich möchte aufzeigen, welch Kreativpotenzial Yilmaz Güney besaß und wie es ihm möglich war, aus dem Gefängnis heraus Filme herzustellen. Es ist auch ein Versuch, einen Blick hinter die Kulissen der Filmproduktion und der »Gefängnismauern des Exils« zu werfen.

  3. Ich erzähle die wahre Geschichte meiner Begegnung mit Yilmaz Güney. Es ranken sich viele Legenden um sein Leben, vor allem in der Türkei. Auch wenn unsere Geschichte vor zweiunddreißig Jahren geschrieben wurde, hat sie doch an Aktualität nichts eingebüßt. Yilmaz Güney hat sich nicht nur mit seinen Filmen ausgedrückt, sondern auch in seinen Schriften und Reden. So ist sein zehnseitiger Beitrag im Presseheft des Filmes »Yol« noch immer aktuell und brisant (siehe Abschnitt „Presseheft ab Seite 167).

Ich kann nur von jenen Gegebenheiten berichten, an denen ich selbst zugegen war (1979–1984). Was nach dem Januar 1984 geschah, kenne ich nur bruchstückhaft. In Kapitel 4, das über das Archiv der Website “www.edihubschmid.com“ zugänglich ist, werden zusätzliche Dokumente, Fotos und Videos bereitgestellt, die einesteils aus jener Zeit stammen und spezielle, produktionelle Aspekte beleuchten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) und andererseits auch die Frage stellen: Was geschah danach?

Über Yilmaz Güney sind keine Bücher auf Deutsch erhältlich. Es existiert einzig die Publikation des “buntbuch-verlags, hamburg”, das Drehbuch von “Sürü”. Von den zahlreichen Publikationen in türkischer Sprache kenne ich die bedeutendsten. Diese habe ich mir auch partiell übersetzen lassen. Da Yilmaz Güney in der Türkei einen Mythos darstellt, enthalten die Veröffentlichungen einige Fehler, die darauf zurückzuführen sind, dass die Autoren der angesprochenen Publikationen das Werk und das Wirken von Yilmaz Güney auf eine Weise interpretieren, die eher vom Hörensagen her stammt als von der tatsächlichen Faktenlage.

Sollte sich bei der Leserschaft ein über den Rahmen dieses Buches hinausgehendes Interesse für diesen türkischen Filmemacher und seine Werke einstellen, so verweise ich auf die zahlreichen Materialien im World Wide Web.

Meine Hoffnung ist es, dass die Güney-Film, Istanbul, durch dieses Buch zusätzlich motiviert wird, das filmische Erbe technisch sowie organisatorisch in der Art zu pflegen, wie es für einen großen Künstler angemessen ist. So ist es wichtig, dass die Negative der Filme erhalten bleiben und dass bald neue DVDs mit Vorzug digital restaurierter Fassungen wieder erhältlich sein werden (inklusive verschiedener Untertitelversionen).

Die Produktion von »Yol« fand in einer Zeit statt, in der es keine portablen Telefone oder Computer gab, wie wir sie heute kennen. Auch hatten wir nicht immer eine Kamera dabei, und so sind relativ wenig eigene Aufnahmen entstanden. Trotzdem habe ich die Form des Bilderbuchs gewählt, in dem ich auf sogenannte Symbolbilder zurückgreife.

Die Herstellung eines Filmes untersteht auf der ganzen Welt im Prinzip dem gleichen Vorgang. Filmschaffende aus verschiedensten Sprach- und Kulturregionen sind in der Lage, problemlos zusammenarbeiten, falls einerseits eine gemeinsame handwerkliche Basis besteht und andererseits der Leitfaden für die Ausführung dieses Handwerks – sprich das Drehbuch – in einer Sprache zugänglich ist, die alle verstehen. Dies ist meistens Englisch. Es geht aber auch ganz ohne Worte, nämlich mit Körpersprache. So hat auch Yilmaz Güney mit der Schweizer Cutterin Elizabeth Waelchli häufig bloß über Gesten kommuniziert: ein kleines Tippen auf die Schulter, ein vielsagender Blick oder dergleichen genügten, sich untereinander verständlich zu machen.

Auf der ganzen Welt entstehen unter unterschiedlichsten Umständen und Einflussfaktoren sehr viele unterschiedliche Filme. Ein Film ist denn auch wie eine Tomate: Man sieht der Tomate nicht an, wie und wo sie gewachsen ist. Beim Essen jedoch wird spürbar, ob die Tomate in Hydrokultur und ohne Sonnenlicht gezüchtet wurde. Bei der Filmproduktion ist es ähnlich: Man sieht den Filmen nicht an, wie sie entstanden sind.

Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei sind sehr besorgniserregend, sodass man sich in die Jahre um 1980 zurückversetzt fühlt. Gerade uns, den nun pensionierten 68ern, kommt es vor, als erwache die Zeit von damals wieder. Am 12. September 1980 putschte das Militär den damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel und installierte eine äußerst repressive Diktatur. Auch heute sind die Gefängnisse wieder übervoll. Jeder in der Türkei, der sich zurzeit frei und bereits harmlos kritisch äußert, wird verhaftet. Die Repression geht sogar so weit, dass die türkischen Konsulate und die Botschaften alles verfolgen, was über das Land gesagt oder geschrieben wird. Nicht selten trifft dann eine Klage bei den Betroffenen ein, die vom Mann aus dem Regierungsgebäude mit den tausend Zimmern in Ankara veranlasst wurde. Es existiert mittlerweile so etwas wie eine »Gesinnungskriminalität« in der Türkei. Wer verhaftet wird, weiß meist nicht einmal, mit wie vielen Klagen er bereits eingedeckt wurde.

So, wie die Regierungsgeschäfte im Ak Saray (Weissen Haus) aktuell geführt werden, besteht die Gefahr, dass die türkische Bevölkerung wie Sandstein an Schleifpapier aufgerieben wird und in verfeindete Gruppen zerfällt.

Mir ist bewusst, dass auf der ganzen Welt viele Menschen der Repression und der Gewalt ausgesetzt sind. Was Yilmaz Güney erlebte, haben viele Menschen auch bitter erfahren müssen. Und leider findet derlei Übel weiterhin tagtäglich in zahlreichen Brennpunkten auf dem Globus statt.

Allen Opfern dieser Unterdrückung und Ausgrenzung ist dieses Buch auch gewidmet und soll als Erinnerung und Mahnmal dienen. Yilmaz Güney wäre damit sicher mit mir einverstanden gewesen. Zürich, im Oktober 2016 Edi Hubschmid

Mein Dank geht an diese Personen.