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Knatsch um Schweizer Cannes-Gewinner
Am 70. Festival von Cannes wird der Klassiker «Yol» gezeigt, der einzige Schweizer Film, der je die Goldene Palme gewonnen hat. Das sorgt für rote Köpfe. Der FRAME- Lesetipp.
von Christian Jungen / 11.5.2017
Yilmaz Güney war in der Türkei als Schauspieler ein Superstar, der oft Robin- Hood-Figuren verkörperte.
Es sind drastische Worte, die im Abspann des Filmes «Yol» von 1982 stehen: «Unser herzlichster Dank an alle Freunde, die unter schwierigsten Bedingungen und trotz aller Risiken zur Herstellung und Fertigstellung dieses Films beigetragen haben. Sie werden durch diesen Film weiterleben.» Es gibt in der Tat kaum ein Werk der Filmgeschichte mit einer spektakuläreren Entstehungsgeschichte als dieses Drama von Yilmaz Güney.
Dieser war damals in der Türkei das, was Jean-Paul Belmondo in Frankreich und Marcello Mastroianni in Italien waren: der berühmteste Schauspieler des Landes. Er hatte in über 100 Filmen mitgewirkt. Oft verkörperte er Banditen, die ihre Beute in Robin-Hood-Manier an die Armen verteilten. Aber im Unterschied zu Mastroianni und Belmondo genoss Güney nicht die Gunst der Politiker. Weil er Marxist war und kritische Schriften verö entlichte, wurde er mehrmals verhaftet.
1976 traf Güney in einem Restaurant auf einen Staatsanwalt, der ihn einmal verurteilt hatte. Als dieser Güneys Frau Fatos als Hure bezeichnete, ging Güney auf ihn los. Es fielen Schüsse. Güney wurde wegen versuchten Mordes zu 19 Jahren Haft verurteilt. Das Drehbuch zu «Yol» schrieb er im Gefängnis. Der Film erzählt, wie schwierig es für Häftlinge in der Türkei ist, sich nach der Entlassung wieder in eine Gesellschaft einzugliedern, die archaische Vorstellungen von Ehre und Rache hochhält.
«Yol» ist ein Abgesang auf eine repressive Türkei, der heute (wieder) so gültig ist wie damals. Der Film wurde von einem Gewährsmann von Güney gedreht, der aus dem Knast genaue Anweisungen gab. «Yol» gewann 1982 am Festival von Cannes die Goldene Palme.
Was kaum jemand weiss: Er ist eine hundertprozentige Schweizer Produktion, ermöglicht von der Zürcher Firma Cactus. Die Firma war 1979 als Kooperative gegründet worden und hatte mit «Les petites fugues» von Yves Yersin gleich einen Hit gelandet.
1979 sassen Donat Keusch, der Verleihchef, seine Ehefrau Eliane Stutterheim, die sich um den Weltvertrieb kümmerte, und Edi Hubschmid, Leiter der Produktionsabteilung, auf der Piazza Grande und sahen den Film «Sürü» von Yilmaz Güney. «Wir waren begeistert von diesem Film, der den Goldenen Leoparden gewann, und haben uns sogleich die Rechte daran gesichert», erzählt Hubschmid.
Flucht auf Kokain
«Sürü» («Die Herde») lief hierzulande als erster türkischer Film im normalen Kinoprogramm und war erfolgreich. «Wir haben der Firma Güney Filmcilik vertragsgemäss alle drei Monate ihre Einnahmen-Anteile überwiesen», erinnert sich Keusch. «Die Güney Filmcilik, die von anderen europäischen Verleihern um ihre Anteile betrogen wurde, war darob überrascht.»
Güney war auf der Suche nach ausländischen Partnern und entschied sich nicht nur dafür, seine nächsten Filme «Düsman» («Der Feind») und «Yol» («Der Weg») mit Cactus zu machen, sondern auch sein Europa-Büro in der Schweiz zu erö nen.
«Eines Tages klingelte es bei Cactus Film, und draussen standen Nihat Behram, Geschäftsführer von Güney Filmcilik, und Canan Gerede. Ich liess sie eintreten und habe nach ein paar Tagen gemerkt, dass sie und die Firma aus der Türkei ausgewandert waren. Fortan war Güneys Firma bei uns an der Dorfstrasse in Zürich Wipkingen einquartiert», erzählt Keusch.
Die Dreharbeiten zu «Yol» waren abenteuerlich. «Ich habe 1981 mit einem blauen Ford Transit 25 000 Meter Filmmaterial in die Türkei gefahren und Yilmaz zusammen mit meinem Bruder Bruno im Gefängnis in Isparta besucht», erzählt Edi Hubschmid. «Danach standen wir meist in telefonischer Verbindung mit ihm. Yilmaz hat oft über Mittag beim Gefängnis-Direktor Tee getrunken, dort konnten wir ihn erreichen.»
Güney 1980 vor dem Gefängnis mit den Schweizern Bruno (l.) und Edi Hubschmid.
Doch nachdem das Militär am 12. September 1980 in einem Putsch die Regierung gestürzt hatte, verschlechterte sich die Situation der 100 000 politischen Gefangenen. «Güney spürte, dass die Säuberungen begannen und dass ihn die neuen Machthaber kaltstellen wollten», erzählt Hubschmid.
Donat Keusch flog deshalb in die Türkei, um mit Güney einen Fluchtplan auszuhecken. In den Gefängnissen erhielten die Häftlinge traditionellerweise für das Opferfest Bayram, an dem jede Familie ein Lamm schlachtet, Hafturlaub, um mit ihren Angehörigen feiern zu können. Der Plan der Schweizer sah vor, dass Güney aber nicht wie gewohnt Hafturlaub beantragte.
Er tat dies erst kurzfristig, nachdem der Gefängnis-Direktor bereits abgereist war, unter dem Vorwand, dass ein Verwandter erkrankt sei. Da er in der Türkei ein Volksheld war – laut Keusch «der zweitbekannteste Türke nach Staatsgründer Atatürk» –, erhielt er den Urlaub und begab sich an den Badeort Kemer.
Der Chefredaktor von «Hürriyet» bot den Schweizern 100 000 Dollar an für die
Flucht-Story.
Dort warteten Hubschmid und ein deutscher Helfer auf ihn. Sie hatten sich als Touristen getarnt. Keusch hatte einen Kapitän (einen Drogenschmuggler) und einen Matrosen angeheuert, die sie mit Güney nach Marseille fahren sollten. Für die voraussichtlich dreitägige Fahrt haben die Seeleute Kokain konsumiert, um möglichst lange wach zu bleiben.
Doch dann zwang sie ein Sturm, früher an Land zu gehen. Schliesslich flog Hubschmid mit Güney von Athen aus nach Paris und Güneys Frau Fatos mit den zwei Kindern von Istanbul aus nach Zürich.
Damit auch sie ausreisen konnte, hatte Keusch Erika de Hadeln, die damalige Leiterin des Dokumentarfilmfestivals Nyon, überzeugt, Fatos Güney eine Pro-Forma-Einladung in die Jury des Festivals auszustellen. Dank dieser erhielt Fatos Güney ein Visum. Die Details dieser Flucht beschreibt Hubschmid in seinem demnächst erscheinenden Buch «Yol – der Weg ins Exil», das sich stellenweise wie ein Thriller liest.
Das Geld für die Flucht – 50 000 Franken in bar – bekamen Keusch und Hubschmid von George Reinhart von der Winterthurer Industriellen-Dynastie Volkart/Reinhart, der bereits ihren Erfolgsfilm «Das Boot ist voll» ermöglicht hatte.
Nachdem Güney in Frankreich Asyl erhalten hatte und mit Hubschmid in die Schweiz eingereist war, versteckten die Cactus-Leute den Cineasten in Reinharts Sommerhaus am Greifensee, das damals ein beliebter Party-Ort der Zürcher Filmszene war. Die Idee war, dass Güney dort zusammen mit der Genfer Cutterin Elisabeth Waelchli «Yol» montieren sollte. Daraus wurde nichts.
«Als in der Türkei bekannt wurde, dass Güney nicht ins Gefängnis zurückgekehrt war, kamen uns türkische Journalisten auf die Spur», erzählt Hubschmid. So landete eine Foto vom Eingang der Cactus Film mit dem Schild, auf dem unter anderem der Name von Güneys Geschäftsführer stand, auf der Frontseite der Zeitung «Hürriyet».
Deren Chefredaktor reiste sogar extra nach Zürich, um die Cactus-Leute dazu zu bewegen, auszupacken. Er bot Keusch erfolglos 100 000 Dollar für die Flucht-Story an. «Zehn Tage lang berichteten die türkischen Medien im grossen Stil über die Flucht von Güney, dann verbot ihnen die Regierung, weiter darüber zu schreiben», erzählt Keusch.
Der türkische Geheimdienst observierte derweil die Schweizer. So wurde Hubschmid einmal von einem fremden Auto verfolgt, das er jedoch abschütteln konnte. «Darauf kam ich in meiner Wohnung sofort mit Donat und Güney zusammen. Da ich früher eine Episode der Krimiserie ‹Ein Fall für Männdli› mit Ruedi Walter im französischen Ort Divonne-les-Bains bei Genf gedreht hatte, beschlossen wir noch am gleichen Abend, dorthin zu fahren.»
In dieser von vielen Fremden besuchten Kasinostadt konnte sich Güney frei bewegen und mit Waelchli den Film montieren. Als im April 1982 eine 135-minütige Fassung vorhanden war, führte Hubschmid sie in Paris dem Direktor des Festivals von Cannes vor. «Gilles Jacob kam raus und sagte, der Film sei konfus und zu lang, so könne er ihn nicht einladen. Würde ‹Yol› überarbeitet, zeige er ihn im Wettbewerb», erinnert sich Hubschmid.
Als er dem Regisseur die Hiobsbotschaft überbrachte, sei dieser bleich geworden – damit, dass sich ein Festivaldirektor in künstlerische Belange einmische, habe Güney nicht gerechnet. Der Cineast entschied noch in der folgenden Nacht, seine Geschichte von sechs Häftlingen auf fünf zu reduzieren.
Jacob lud «Yol» darauf ein, ohne sich ihn noch einmal anzuschauen. Allerdings holte er sich dafür das Plazet von Kulturminister Jack Lang ein. Aus Sicherheitsgründen kündigte Jacob den Titel an der Pressekonferenz nicht an. Er sagte nur, es gebe einen Überraschungsfilm, und liess die Katze erst am Vorabend der Premiere aus dem Sack.
François Mitterrand hilft
Am Tag, als Güney «Yol» an der Croisette vorstellte, demonstrierten mehrere hundert Kurden vor dem Palais gegen Repression in der Türkei. Als Ankara erfuhr, dass Güney in Cannes weilte, schickte es der Polizei-Präfektur in Nizza seinen Interpol-Haftbefehl – am gleichen Tag traf dort auch ein Befehl von Mitterrands Innenminister ein, man solle Güney mit Bodyguards Schutz gewähren.
Nach der Pressekonferenz flog Güney mit Hubschmid nach Athen zu einer Konferenz der europäischen Kulturminister, zu der sie die frischgebackene griechische Kulturministerin Melina Mercouri eingeladen hatte. In Cannes stritt die Jury lange um den Sieger. Geraldine Chaplin, Mrinal Sen und Jean-Jacques Annaud machten sich für «Yol» stark, Sidney Lumet setzte sich für «Missing» von Costa-Gavras ein.
Da Hubschmid ein Projekt mit Sen in Planung hatte, hielt ihn dieser auf dem Laufenden. «Mrinal rief uns schliesslich morgens um 3 Uhr an, um uns mitzuteilen, dass unser Film ex aequo mit Costa-Gavras’ Film die Goldene Palme gewinnt, da war ich sprachlos.»
22 Kurden traten am 17. August 1983 in Paris in einen Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen in der Türkei zu protestieren. Yilmaz Güney unterstützte sie.
Es standen also ein türkischer und ein griechischer Exilant auf der Bühne, die beide in Paris lebten und Freunde wurden. Für die Schweizer war das wie ein Sechser im Lotto. «Wir haben während des Festivals von morgens bis abends Verkäufe abgeschlossen und die Presse betreut.
Der Film kam dann in rund 50 Ländern ins Kino», erzählt Donat Keusch. «Er hat uns Einnahmen von 3 Millionen Franken beschert. Die Hälfte der Netto-Einnahmen haben wir Güney geschenkt, und nach Abtragen der Schulden blieb 1 Million Franken Reingewinn in der Kasse von Cactus.»
Damit hatte die Firma den Zenit erreicht. Es folgten Fehleinkäufe und eine Budget-Überschreitung beim Film «Glut» (1983) von Thomas Koerfer. Darauf überwarfen sich die Partner. Als Hubschmid von einem Besuch bei Mrinal Sen in Indien zurückkehrte, erfuhr er, dass ihm Keusch und Stutterheim gekündigt hatten. In sein Büro bei Cactus konnte er nicht mehr, die beiden hatten das Türschloss ausgetauscht.
Vor Gericht kam es zu einem Vergleich: Hubschmid erhielt die Rechte aller ihrer Schweizer Filme, Keusch das Recht an «Yol». Eine weitere Hiobsbotschaft erreichte Hubschmid 1984 aus Paris: Yilmaz Güney, der an Darmkrebs litt, war gestorben, nachdem der Leibarzt von Mitterrand vier Stunden lang vergeblich versucht hatte, sein Leben zu retten.«Am Tag der Abdankung zogen 5000 Leute mit uns zum Friedhof, Kurden und Türken», erzählt Keusch, «Yilmaz war ein Volksheld, der die Parteien einte.» In der Türkei errichteten Kurden in vielen Städten Statuen zu Ehren ihres Idols.Zo um neue Version
Damit ist die leidvolle Geschichte um «Yol» noch nicht zu Ende. Donat Keusch hat in Berlin mit dem Cutter Peter R. Adam («Good Bye, Lenin!») und Tobias Frühmorgen mit Negativ-Resten vom Originalmaterial einen Director’s Cut erstellt – auf der Basis von Güneys Drehbuch und dem Schnittplan vom Februar 1982, wie er betont.
«Machen wir uns nichts vor: Wir haben in Cannes aus politischen Gründen gewonnen, die hastig und unsauber gekürzte Version von damals entspricht nicht der ursprünglichen Intention. Dieser Meinung war auch Yilmaz selber. Wir hatten bereits vor dem Festival von Cannes vereinbart, den Film danach richtig fertigzustellen», erzählt Keusch.
Für diese Fassung, deren Budget sich auf 250 000 Franken beläuft, hat er mit dem Filmkaufmann Martin Hellstern einen Investor gefunden. Sie wurde am 16. November 2016 zum ersten Mal in Berlin der Crew gezeigt.
Neu ist laut einem Insider der Rhythmus und die Wiedereinführung einer sechsten Figuren, deren Schicksal Güney ursprünglich herausgeschnitten hatte. Neu sind auch die Credits. Im Original ist Hubschmid als Produzent genannt, nun erscheint zu Beginn bloss Cactus als Produktionsfirma, und am Ende werden Keusch, Hubschmid und Stutterheim gemeinsam als Produzenten genannt.
Hubschmid, der seit dem Gerichtstermin 1988 nie mehr Kontakt mit Keusch hatte und darum die neue Fassung nicht gesehen hat, ist entsetzt: «Warum sollte man einen Film, der als Meisterwerk gilt und die Goldene Palme gewonnen hat, neu schneiden? Eine solche Fassung stellt eine Verletzung des Urheberrechts dar.»
Auch Güneys Witwe Fatos, die in der Türkei lebt, ist gegen die neue Fassung und schreibt auf Anfrage: «Ich habe mit meinem Anwalt die nötigen Schritte eingeleitet, um dielange Version zu verhindern.» Auch ihre in Paris lebende Stieftochter will sich juristisch wehren. Keusch wiederum will Fatos Güney, der er 1981 zur Flucht in die Schweiz verholfen hatte, einklagen, weil sie, ohne die Rechte zu besitzen, «Yol» in der Türkei gezeigt hat.
Donat Keusch aber darf sich freuen: Die neue Fassung wird am 70. Festival von Cannes in der Sektion «Cannes Classics» gezeigt unter dem Titel «Yol – The Full Version». Obwohl die Geschichte der sechsten Figur wieder eingefügt worden sein soll, ist sie mit 1h 53 Minuten fast gleich lang wie das Original – wohl deshalb, weil da und dort gekürzt wurde, um das Erzähltempo zu erhöhen.
«Yol» soll zum 80. Geburtstag von Yilmaz Güney und zum 35. Jahrestag der Goldenen Palme auch wieder im Kino sowie als Video-on-Demand und DVD verö entlicht werden . Demnächst wird auch ein Buch zur Flucht von Yilmaz Güney erscheinen, das seine Tochter am Schreiben ist, sowie ein Dokumentarfilm des deutsch-kurdischen Filmemachers Hüseyin Tabak über Güney. «Yol» wird also die Gemüter der Beteiligten auch mehr als 30 Jahre nach dem Tod des Regisseurs weiter beschäftigen.
Dieser Text ist zuerst in «Frame» erschienen, der grössten deutschsprachigen Filmzeitschrift.