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Yilmaz Güney

Begegnung mit Yilmaz Güney

3.5 Begegnung mit Yilmaz Güney (aus einem in türkisch geführtem Gespräch)

Ich wurde 1937 in einem Dorf bei Adana geboren. Meine Vorfahren waren landlose Bauern. Mein Vater war gleichfalls Bauer, ebenso meine Mutter; Ich habe im Dorf die Primarschule begonnen und bin drei Jahre später nach Adana gezogen, um dort zuerst die Sekundarschule, danach das Lyzeum zu besuchen. In Adana verkaufte ich nach der Schule Limonade und »Simiten« – das sind kleine Sesamkuchen, die man in der Straße verkauft. In den Schulferien kehrte ich ins Dorf zurück und half meinem Vater. Später habe ich Kurse an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften in Istanbul besucht, dies aber nur zwei Jahre lang. Da ich den Studiengang nicht abgeschlossen habe, kann ich auch nicht sagen, ich sei ein ausgebildeter Wirtschaftsexperte. In dieser Fakultät werden Kaderleute ausgebildet, künftige Bankdirektoren, Experten, Buchhalter. Es steht außer Frage – heute und schon gar nicht damals –, über den Marxismus als mögliches Wirtschaftsmodell in dieser Abteilung zu sprechen. Im Gegenteil, der Marxismus wird als feindliche, zersetzende Ideologie totgeschwiegen. Die Fakultät bereitet die Studenten nicht für ihre spätere Tätigkeit vor. Es sind vielmehr die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Türkei, die die Leute dort steuern. Ich wäre bei Studienabschluss bestimmt Beamter geworden, in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Sektor. Ich hatte bei mir damals eine kleine künstlerische Ader entdeckt, schrieb einige Geschichten, doch ohne glückliche Umstände wäre ich nicht so weit gekommen, wie ich heute bin. Ich habe schon erzählt, dass mein Vater Land bebaute, aber er war nicht ein landloser Bauer wie all die andern. Er war nämlich nicht nur Bauer, sondern auch ein weiser, erfahrener Mensch, der mir viel von seinen Erfahrungen mitgegeben hat. Bis zu seinem 35. Lebensjahr hatte er zahlreiche Berufe ausgeübt. Danach ist er eine Art Verwalter auf einem Bauerngut geworden. Er wurde die rechte Hand des Gutsbesitzers. So pendelte er also zwischen zwei Klassen. Ich selber fühlte beim Spielen mit den Kindern der Reichen, dass ich nicht ganz zu ihnen gehörte. Wenn ich mit den Armen spielte, akzeptierten sie mich zwar, aber einer der ihren war ich auch nicht. Ich habe sehr schnell begriffen, dass ich wählen müsste, um nicht in die gleiche Situation wie mein Vater zu geraten. Mit sechzehn begann ich zu fühlen – zuerst war es wohl nur eine Ahnung –, wie die Besitzer trotz ihrer gespielten Freundlichkeit die Bauern ausbeuteten.

Als Antwort darauf habe ich beschlossen, künftig in der Stadt zu arbeiten. Mit diesem Entschluss habe ich nicht einen bestimmten Beruf gewählt, wohl aber eine gewisse Lebensweise. Meine erste Anstellung war in einem Geschäft, das Filme reparierte. Diesen Job fand ich völlig zufällig, es hätte auch etwas ganz anderes sein können. Der Besitzer dieses Geschäfts war der Vater jenes Mädchens, das später in »Sürü« die Rolle der Melike spielte. Ein wahrer Zufall. Der Zufall hat mich also in eine Branche geführt, die ich schon vorher bewundert hatte, den Film. Diese Arbeit wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Zum ersten Mal konnte ich ins Nachbardorf fahren, denn ich hatte Filme abzuliefern, die dort vorgeführt werden sollten. Es war zugleich das erste Mal, dass ich aus meinem Dorf hinauskam. Später habe ich dann für eine andere Filmgesellschaft gearbeitet, die mich in der ganzen südöstlichen Türkei herumgeschickt hat. Es wurde mir klar, dass es mehr gibt als die Scholle, an die der Bauer gebunden ist und über die er sein ganzes Leben nie hinauskommt. Ich habe gemerkt, dass es noch anderes gibt, das über damalige Erfahrungsbereiche hinausging. In der Sekundarschule und in der ersten Lyzeumszeit las ich natürlich die Geschichte der Ottomanen wie alle anderen Schüler auch, eine Geschichte voller Eroberungen. Doch ich konnte keine Leidenschaft für deren Beutezüge aufbringen, denn ich ahnte, wie viel Leid sie den Unterdrückten gebracht hatten. Ich hatte dafür nicht die geringste Bewunderung für sie. Meine Vorliebe galt eher jenen bürgerlichen – so möchte ich sie nennen – Revolutionären am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wie dem Dichter Namok Kemal oder dem Staatsmann Mithat Paa. Sie machten auf Dinge aufmerksam, die die breite Bevölkerung nicht kannten, und sie wurden verfolgt für die Dinge, die sie laut zu sagen wagten. Leute ihres Schlages, Galiläus etwa, waren meine Idole. Meine Liebe zur Kunst entstand aus dieser Bewunderung heraus. Meine erste Begegnung mit dem Film hatte ich in meinem Dorf. Zu jener Zeit gab es ein Wanderkino. Ich meine damit nicht einen Wagen mit einem 16-mm-Projektor, sondern einen Mann, der auf seinem Rücken eine Kiste trug mit einer Kurbel zum Drehen und einem kleinen Guckloch. Alle Kinder kamen, um den Film zu sehen, und drückten ihr Auge an dieses Loch. Der Mann kurbelte, sang Lieder und erzählte Geschichten, die mehr oder weniger mit dem Film zusammenhingen. Er wusste so ungefähr, was in der Kiste passierte. Was man im Allgemeinen sah, waren Filmstücke, Filmabfälle, Landschaften, Länder, den König der Cowboys, den Krieg von Indochina und so weiter. Mit meinem Vater ging ich ab und zu in die Stadt und manchmal auch ins Kino.

So mit elf Jahren habe ich angefangen, regelmäßig ins Kino zu gehen. Infrage kam eigentlich nur ein Kino, es hieß »Tan«. Dieses Kino entsprach meiner Kleidung und war das populärste der Stadt. Die andern waren sehr luxuriös. Man fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, wenn man dorthin ging. Ich kann sagen, dass ich ähnliche Filme gesehen habe wie die Kinder heute, die »Superman«-Filme, amerikanischen Serien, Kriegsfilme, Cowboyfilme, Gangsterfilme und dergleichen. Musikalische Filme, also Musicals und Salonfilme, interessierten mich weniger. Zu Beginn der Sekundarschule hatte ich die ständigen Wiederholungen allmählich satt. Immer mehr hatte ich Lust, etwas anderes zu sehen. Zu jener Zeit habe ich angefangen, mich für die Schauspieler zu interessieren. Der erste Schauspieler, der mich tatsächlich beeinflusst hat, war Burt Lancaster. Es hatte eine Rolle in einem Film von Jules Dassin, das habe ich zwar erst später erfahren. Der Film spielte in einem Gefängnis und hieß »L’Affrontement sauvage«. Nachdem ich viele Filme mit Burt Lancaster gesehen hatte, begann ich mich für Jack Palance zu interessieren. Mit seinem Spiel und seinem Aussehen hat dieser mich sehr stark beeinflusst. Auf jeden Fall kannte ich die Regisseure all jener Filme nicht, die ich sah. Ich ging mir die Schauspieler anschauen, die waren wichtig. Für mich sind »Viva Zapata« oder »Vom Winde verweht« sehr wichtige Filme gewesen. Ich wusste nicht genau, was wichtig war, etwa in »Vom Winde verweht«, doch kam ich sehr berührt aus dem Kino und war vollkommen aufgewühlt. Übrigens berühren mich die Filme, die ich damals geliebt habe, auch heute noch, es sind Filme, die überlebt haben und die immer noch da sind. Was mich im Fall von »Viva Zapata« so stark aufgewühlt hat, war die Tatsache, dass sich die Geschichte um arme Bauern und diesen unglaublichen Helden drehte. Die armen Leute haben es immer nötig, sich Helden zu erschaffen. Reiche Leute hingegen brauchen keine. Während meiner Zeit bei dieser Filmgesellschaft bereiste ich drei Monate lang mit zwei bis drei Filmen die östliche Türkei. Nach einiger Zeit kannte ich die Filme auswendig. Ich achtete auf die Reaktionen der Leute, lernte sie einschätzen. Nach vier Jahren wusste ich genau, wo, wann und wie die Zuschauer reagieren würden. Ich habe in den verschiedenen Gegenden die Reaktionen der Leute miteinander vergleichen können, und ich kann sagen, dass ich später diese Erfahrungen in meine Drehbücher einfließen ließ. Ich wusste nun aus Erfahrung, wann und wo die Zuschauer lachen würden, wo weinen, wo sie heftig reagieren würden. In jenem Jahr, als ich 27 Filme abgedreht hatte, hatte der türkische Film ungefähr deren 250 produziert. Ich hatte in jenem Jahr also bei über 10 Prozent der türkischen Produktionen mitgearbeitet.

Die Produzenten in der Türkei kann man in verschiedene Kategorien einteilen: Die erste Kategorie sind die alten Produzenten. Sie existieren schon lange, besitzen ihr Eigenkapital und ersparen sich so die zentrale Phase der Geldsuche. Diese Alt-Produzenten stehen in enger Verbindung zu den Kinobesitzern. Sie bekommen sogar einen Vorschuss, selbst bevor der Film gedreht worden ist. Sie sind sehr mächtige Leute. Nicht auf internationaler Ebene, wohl aber in der türkischen Filmproduktion. Es gibt etwa fünf bis sechs von ihnen. Sie produzieren drei bis vier Filme pro Jahr. Diese Filme werden immer mit bekannten Stars besetzt. Es sind Filme ohne großes Risiko, solide finanziert. Es kann vorkommen, dass diese Produzenten jungen Filmschaffenden oder unbekannten Schauspielern eine Chance geben, nicht aus philanthropischen Gründen allerdings, sondern nur wegen eigener Interessen. Im Allgemeinen stoßen Filme, die von diesen Leuten produziert werden, auch in anderen Ländern auf Interesse. Die Produzenten der zweiten Kategorie haben eine relativ kleine Kapazität im Vergleich zu jenen der ersten. Im Allgemeinen haben diese Leute aber eine gesunde finanzielle Struktur, selbst wenn diese bescheiden ist. Sie arbeiten gewöhnlich mit Wucherern zusammen, um Geld zu beschaffen. Produzenten unterstützen oft ihre kleinen Brüder, aus dem einfachen Grund, weil sie Verträge mit den Kinobesitzern haben und mit ihren drei bis vier Superproduktionen jährlich die Nachfrage nicht decken können. Manchmal drehen die Produzenten der zweiten Reihe Filme mit Stars, manchmal mit zweitrangigen Schauspielern, auf jeden Fall aber mit knapperen Budgets als die Filme der ersten Kategorie. Die dritte Kategorie sind die kleinen Produzenten, die ebenfalls einen, zwei oder Maximum drei Filme jährlich drehen. Sie arbeiten in erster Linie mit den Vorschüssen von den Verleihern. Man kann diese Kategorie sogar noch unterteilen: Da wären einmal jene Produzenten leichter Komödien und Pornofilme und dann jene, die neben seichten Produktionen ab und zu versuchen, mit qualitativ hochstehenden Filmen ans Publikum zu gelangen. Manchmal produzieren sie einen ersten Film, verschwinden dann von der Bildfläche, um irgendwann wieder aufzutauchen. Das sind Leute, die eine Firma gründen, sie Konkurs gehen lassen, um gleich darauf eine neue zu gründen, so wie andere Leute das Hemd wechseln.

Schließlich möchte ich noch von zwei weiteren Kategorien sprechen, die ich die Kategorien fünf und sechs nenne. Diese beiden haben in den letzten Jahren praktisch 80 Prozent des qualitativ hochstehenden türkischen Films produziert. Die fünfte Kategorie, das sind Unabhängige, die gewisse finanzielle Mittel haben und eine Neigung zur Kunst haben. Es sind gewöhnlich Demokraten der Mittelklasse, Besitzer von kleinen Theatern oder Kinosälen, die daran glauben, dass man auch in der Türkei gute Filme drehen kann. Da sie keine Erfahrung haben, gehen sie meist rasch wieder unter. Aber ihre Filme überleben und werden für den türkischen Film wichtige Werke bleiben. Diese Studiofilme werden von den »Gaunern« in der türkischen Filmwelt wenig gezeigt. Und schon während ihrer Entstehung werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Die technischen Equipen, die mit Produzenten der ersten Kategorie unter genau bestimmten Bedingungen zusammenarbeiten, wurden jedes Mal heftiger, wenn es darum ging, mit kleinen Produzenten, die auf Goodwill angewiesen wären, zu verhandeln. Die Techniker haben dann auch oft fünftklassige Arbeit abgeliefert. Sie haben auf jeden Fall die Produktionskosten dieser Kategorie immer mehr in die Höhe getrieben. Die Produzenten, die in dieser fünften Kategorie klein angefangen haben, existieren nicht mehr, zumindest sind es nicht mehr die gleichen Leute. Es gibt immer wieder Leute mit viel gutem Willen, aber sie werden in der Türkei nicht alt. Schließlich die sechste Kategorie, das sind im Allgemeinen Schauspieler, Regisseure, denen durch eigene Mittel, persönliche Anstrengung, Branchenerfahrung und Beziehungen gewisse Dinge ermöglicht werden. Ein solcher Einzelkämpfer ist etwa Atef Umar. Die filmtechnische Infrastruktur in der Türkei wurde von Importeuren ausländischer Filme geschaffen. In erster Linie ging es darum, ausländische Kopien dem türkischen Markt anzupassen, zu synchronisieren, zu kopieren. Als dann die technische Infrastruktur einmal da war, lag es auf der Hand, diese Einrichtungen für den türkischen Film auszunutzen. Hier kann man zwei Namen aufzählen: Ipec Film und Darle Film. Beide haben als Importeure angefangen und ihre Mittel später dem türkischen Film zur Verfügung gestellt. Daneben gibt es auch nur für den Inlandmarkt arbeitende Produzenten, etwa Adjar Film, die angefangen haben, Kameras, Tonmaterial, ja selbst Aufnahmestudios anzuschaffen. In der Türkei besitzen Kameraleute in der Regel ihre eigene Kamera. Gewisse Produktionsfirmen besitzen eigenes Lichtmaterial. Meist aber ist das Lichtequipment in den Händen ganz vieler kleiner Gesellschaften von der Größe von vielleicht einer bis zwei Personen. Hier machen sehr wenige Leute alles: Ton, Licht, Requisiten, Kostüme, Maske, Spezialeffekte.

Als ich meine Filme drehte, betrachtete man mich im Grunde genommen als eine Ware. Ich war mir dessen bewusst, aber was konnte ich machen? Ich war gezwungen, ihr Spiel zu spielen und ihre Spielregeln zu akzeptieren. Ich redete mir ein, eine Investition für meine Zukunft zu tätigen, selbst wenn es manchmal auf Kosten meiner Gesundheit ging oder meiner Ehre. Immerhin sind durch mich eine ganze Reihe von Leuten reich geworden. 1965 habe ich – wie bereits angesprochen – 27 Filme gedreht. Jedermann begreift, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Mein Ziel war es nach wie vor, an die Massen heranzukommen. Dennoch habe ich nie mit den großen Produzenten zusammengearbeitet, und ich habe es auch nie versucht. 1966 habe ich angefangen, einige Filme für mich zu drehen und einige für andere. Schließlich habe ich mich einer Produktionsgesellschaft angeschlossen, der Dadas Film, unter der Bedingung, dass ich die Regisseure und die Drehbücher auswählen kann. So habe ich ungefähr zehn bis zwölf Filme gemacht, von denen meiner Meinung nach acht gut sind. Meine Schwierigkeiten mit den Behörden begannen eigentlich, als ich anfing, regelmäßig zu schreiben, etwa 1956. Meine erste Verurteilung geht ins Jahr 1958 zurück. Ich habe dagegen appelliert, ohne Erfolg. Meine wahren Schwierigkeiten begannen dann im Jahr 1966. 1954 schrieb ich meine ersten Erzählungen. Drei Jahre später hat man mir vorgeworfen, kommunistische Propaganda zu machen und mich zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis und zwei Jahren Exil verurteilt. Ich habe gegen dieses Urteil appelliert, und meine Strafe ist auf ein Jahr Haft und sechs Monate Exil reduziert worden. Während dieser Gefängnisstrafe habe ich meinen ersten Roman verfasst. Es geht darin um die Unterdrückten, Ausgebeuteten. Er ist in der Zeit von 1962 und 1963 geschrieben worden. Eine weitere Untersuchung ist 1958 eingeleitet worden. Ein Urteil wurde aber erst 1961 gefällt. Im Mai 1961 wurde ich bis Dezember 1962 eingesperrt, musste dann ins Exil und bin 1963 zurückgekehrt. Meinen Roman habe ich in der letzten Zeit der Inhaftierung und während des Exils in Konya, einer Stadt in Anatolien im Zentrum der Türkei, wo der konservativste und religiös fanatischste Bevölkerungsteil der ganzen Türkei lebt, geschrieben. Ich hatte materiell und moralisch revolutionären Studenten geholfen und habe sie bei mir versteckt. Dafür habe ich zehn Jahre Gefängnis bekommen. Heute können mir gewisse Leute vorwerfen, dass ich wie ein Bourgeois lebe. Man muss allerdings verstehen, dass nach der langen Zeit der Entbehrung und der harten Lebensschule schon noch einige Wünsche offen sind.

Die dokumentarische Basis meiner Filme ist das Leben, mein Leben und das jener, die ich kenne. Wenn ich zum Beispiel den Film »Umut« (»Hoffnung«) nehme, so erzähle ich die Geschichte meiner Familie, meines Vaters und meines Bruders. »Sürü« (»Die Herde«) schildert die Geschichte der Familie meiner Mutter oder vielmehr ihres Onkels. Wenn ich von meinem letzten Film »Yol« rede, ist es die Geschichte meiner Freunde, all jener Leute, die ich gekannt habe, mit denen ich mich verbunden fühlte, mit denen ich zusammengelebt habe. Ausgangspunkt ist immer das Leben, doch manchmal spielt eine systematische, wissenschaftliche Suche nach Zusammenhängen eine wichtige Rolle, wenn man Leben aufzeichnen und neu erzählen will. Als Filmschaffender, als Schauspieler bin ich in vielen Milieus herumgekommen. Zuerst bei Leuten, die sich in der Provinz um den Film kümmerten, dann bei Leuten, die zu der dominierenden Klasse der Filmbranche gehörten, aber auch bei der Polizei, bei der Verwaltung. Ich gehe bei meinen Filmen von einem zentralen Thema aus und baue meine Geschichte um diesen Erzählkern auf. Dieses Thema ist das Resultat meiner Nachforschungen. Die Kürze meiner Filmtitel hängt mit dem zentralen Thema zusammen, das ich mir stelle. Dieses eine Titelwort hat meist einen sehr reichen und weiten Sinn. »Agit«, eine Elegie etwa, ist ein Lied voller Tränen, seien es nun Tränen der Freude oder Tränen der Trauer. Ein Lied über das Leben also. »Sürü« ist eine Kurzform für all die Regeln, welche uns lenken, alle Zwänge, alle Ausbeutungen. Je kürzer der Titel, desto weiter der Sinn. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis wollte ich eine Serie von sechs Filmen drehen. Jeder sollte einen Teil der Gesellschaft, der Bauern, des Unterproletariats, der Bürger zeigen. Der Film»Arkadas« (»Freunde«) war der erste Film dieser Serie. Aber ich habe sie nicht zu Ende führen können. Dann kam die Zeit, wo sich mein Name besser verkaufen ließ. Einige Produzenten bekamen Angst und fragten sich, was sie tun sollten. Für sie war ich gerade gut genug, um Schuhe zu putzen, denn ich war ein Kommunist. Diese Leute haben stets nur Geschichten erzählt, die nicht die Geschichte des Volkes, der Massen waren. Sie haben nicht begriffen, dass die Massen meine Filme liebten, weil sie sich in ihnen wiederfanden. Und die Massen waren es, die meinen Filmen den Erfolg brachten.

Am Anfang habe ich meine Zuschauer ausgewählt. Ich wollte keine Allerweltsfilme für jedermann machen. Ich musste mir also im Klaren sein, wer meine Filme sehen wird. Die große Mehrheit der Leute, die in der Türkei ins Kino gehen, stammen aus der Mittelklasse. Es sind Kaufleute, Arbeiter, Jugendliche zwischen zwölf und achtzehn, vielleicht zwanzig Jahren. Die Leute der herrschenden Klasse, reiche Leute, gehen nur selten ins Kino. Bei den wenigen Gelegenheiten gehen sie nicht in türkische, sondern in ausländische Filme oder höchstens in türkische Renommierfilme. Meine Filme sind einen ganz anderen Weg gegangen. Zuerst wurden sie in den kleinen Dörfern gespielt, später kamen sie in die Provinzstädte. Mit den größeren Städten war es dasselbe: zuerst am Stadtrand und später im Herzen der Großstadt. Ich hatte mir gesagt, eines Tages werden die großen Produzenten zu mir kommen und sich entschuldigen. Erst dann würde ich für sie arbeiten, erst dann etwas für sie produzieren. Sie haben mich in der Tat um Entschuldigung gebeten, nur war ich damals im Gefängnis. Als »Sürü« in der Türkei anlief, wurde ich pausenlos bedroht, sogar Bomben wurden gelegt. Hier in Europa kennt man mich wenig. Hier muss ich mir mein Publikum erst schaffen. Wahrscheinlich werden meine Filme mit ihrem Pathos bei den Massen auf ein Echo stoßen, weil sie ihre eigenen Gefühle im Film wiederfinden. In den türkischen Gefängnissen gibt es heute etwa 100’000 politische Gefangene. Das zeigt einerseits, dass ein revolutionäres Potenzial in der Türkei vorhanden ist, dass diese Leute andererseits aber praktisch ohne Erfahrung sind. Sie wissen nicht, wie sich eine revolutionäre Theorie in die Praxis umsetzen lässt. Ich würde sagen, dass dies eine Kinderkrankheit jedes revolutionären Prozesses ist. In der Türkei entsteht zwischen mir und dem Zuschauer eine Art Komplizenschaft, denn die Zensurkommissionen sind sehr streng und lassen in meinen Filmen sehr wenig von meinem Gedankengut durchsickern. Ich bin gezwungen, nach Symbolen und Bildern zu suchen, um mit meinen Zuschauern den Dialog zu finden. Der Zuschauer versteht meine Symbole sehr gut, weil es gewisse Werte gibt, gewisse Konstanten, Allegorien, die meine Gedanken übermitteln. Im Grunde genommen muss man meine Filme und mein Leben als ein Ganzes betrachten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Filme für sich allein verstanden würden.

Von den türkischen Arbeitern im heutigen Europa zu erzählen, hat keinen großen Sinn – ihre Probleme hängen nicht damit zusammen, dass sie Türken sind. Es sind die gleichen wie die der jugoslawischen Arbeiter, wie die der spanischen und italienischen Emigranten. Wenn ich von Arbeitern rede, spreche ich nicht über Nationalitäten, sondern vom Problem der Emigration. Da kann die Hauptperson ein Araber sein oder ein Türke. Es spielt keine Rolle. Wenn ich einen Film mache, ist das Wesentliche nicht so sehr, neue Themen zu finden, etwas noch nie Dagewesenes zu machen, noch nie Gesehenes zu zeigen. Man kann sehr gut über ein Thema erzählen, das schon hundertmal behandelt worden ist. Man kann dabei eine neue Perspektive entdecken, auf eine neue Art an das Thema herangehen, auf eine neue Art Dinge erzählen. Das Wesentliche ist, einer schon erzählten Geschichte eine neue Dimension zu geben. In dieser Hinsicht erleichtern es Zensur, Schikanen und Druck, in engen Grenzen eine Geschichte neu erzählen zu müssen. Aus diesem kleinen Freiraum ist kein Ausbruch möglich. Es ist schwieriger, in völliger Freiheit zu arbeiten. Es kostet viel Anstrengung, in einer neu gewonnenen Freiheit zu wirken und in dieser Freiheit zu leben. Dies wird mein nächster Schritt sein. Das Wichtigste für mich ist, den Polizisten zu zerstören, den ich in meinem Kopf habe. Wenn das gelungen ist, lässt es sich in der dieser Freiheit gut leben und arbeiten. Ein anderes Hauptthema meiner Filme ist das Gefängnis, die Geschichte der Abhängigkeit, der gescheiterten Leute, der in die Enge Getriebenen. Im Grunde genommen ist die ganze Welt ein riesiges Gefängnis. In jedem meiner Filme gibt es Leute, Helden, die ein kleines Stück Souveränität leben, aber im Allgemeinen stehen die Leute nicht über ihren Lebensumständen. Meine Filme zeigen ein kleines Stück versuchter Unabhängigkeit, aber vor allem bleiben sie Geschichten über Abhängigkeiten. Im Gefängnis waren nach einer gewissen Zeit die meisten, 90 bis 95 Prozent der Gefangenen, auf meiner Seite und verstanden mich. Dieser Zusammenhalt und diese Solidarität haben einen immer grösser werdenden Druck gegenüber der Verwaltung der Strafanstalt gebracht. Ein Gegendruck, der aus dem Innern des Gefängnisses kam. Meine Forderungen als Vertreter der Gefangenen etwa nach Beschränkung oder Abschaffung von Körperstrafen oder nach einer gerechteren Verteilung der Nahrungsmittel hat trotz aller Restriktionen einige Konzessionen der Gefängnisbehörden bewirkt.

Sobald ich 1979 in Halbfreiheit war, habe ich rasch das Material zusammengetragen, das ich für diesen Film brauchen würde: Drehbuch, Notizen, Dokumente, meine Beziehungen zu den Mitgefangenen. Zu jenem Zeitpunkt bestand das Projekt erst aus stichwortartigen Notizen. Erst im August 1980 habe ich begonnen, das eigentliche Drehbuch zu schreiben. Ich habe fünf Monate lang geschrieben und brauchte noch weitere zwei Monate für Korrekturen, während die Vorbereitungen für die Dreharbeiten bereits anliefen. Die definitive Form ist erst im März 1981 festgelegt worden. Es gibt in der Türkei zwei Zensurkommissionen: Die eine ist streng, rigide, die andere ist offener, aus Demokraten und liberaleren Leuten zusammengesetzt. Ich habe versucht, einen geeigneten Augenblick zu finden, der zweiten Kommission das Drehbuch zu schicken, damit es von dieser geprüft würde. Es waren nur 24 Seiten, eine Zusammenfassung. Das eigentliche Drehbuch zählte vor den Dreharbeiten mehr als 150 Seiten. Ich schreibe die Drehbücher sehr ausführlich. Einstellung um Einstellung wird ausgeführt. Notizen auf der unteren Seitenhälfte enthalten besondere Angaben über das Spiel der Schauspieler. Ich habe sogar gewisse Szenen den Schauspielern vorgespielt, um ihnen zu zeigen, wie ich es haben will. Ich habe mit dem Regisseur lange Gespräche geführt, um ihm meine Absicht über den Film zu erklären. Aber schließlich sind sie es, die den Film gemacht haben, nicht ich. Ich habe Serif Gören ausgewählt, weil er mein Assistent war. Zudem sprechen wir eine gemeinsame Filmsprache. Ich habe ihm Angaben in großen Linien gemacht zu den Drehorten. Ich sagte ihm etwa, man müsse diese Sequenz in der Autobusgarage von Adana drehen. Aber natürlich hat Gören letztlich ausgewählt. Nur die großen Linien waren vorgezeichnet. Vor Beginn der Dreharbeiten ist Gören drei Tage lang zu mir gekommen, um mit mir zu diskutieren. Dann sind wir über einen Briefwechsel in Verbindung geblieben. Dieser Film steht über dem technischen Standard, den man für gewöhnlich in der Türkei findet. Als ich dieses Drehbuch schrieb, wusste ich genau, dass dieser Film keine Chance hätte, in der Türkei gezeigt zu werden. Ich musste also aus dem Film etwas Besonderes machen. Denn er war ja auf jeden Fall für die europäischen Zuschauer bestimmt. Dies umso mehr, als auch europäische Technik und europäische Labors benützt wurden. Ich wusste damals noch nicht, dass ich bei der Fertigstellung des Films dabei sein konnte.

Sobald ein Film in der Türkei abgedreht ist, kommt er mit Immissionen in Berührung, die seiner Qualität sehr abträglich sind, während der Synchronisierung, in der Mischung, beim Schnitt und noch mehr, wenn Kopien gezogen werden. Ich habe in der Türkei Filme gemacht, von denen man im Kino glauben könnte, sie wären vor 150 Jahren gedreht worden. Die bürgerliche Demokratie ist in der Türkei nie wirklich verwurzelt gewesen. In einem Land wie diesem kann sie nicht für jedermann existieren. Es gibt sie nur für gewisse Leute, die sich Demokratie leisten können und die genügend Macht haben, sich dennoch durchzusetzen. Nie konnte sich das Volk entscheiden, ob die Türkei für die Demokratie bereit ist oder nicht. Die Türkei hat das Gleichgewicht der Kräfte noch nicht gefunden, welches eine gerechte, chancengleiche Demokratie erlaubt. Man kann sich fragen, ob vor dem Militärputsch tatsächlich eine Demokratie existiert hat. Es war wohl nicht der Fall. Gewisse Rechte sind sicher von den Militärs abgeschafft worden. Aber vorher konnte man auch nicht von einer Demokratie sprechen. Die Kollaborateure der Militärs erhalten keine Belohnung. Das Einzige, was sie als Gegenleistung erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit, den Lebensstandard zu halten, nichts zu verlieren, was sie heute haben. Der Preis ist sehr hoch, denn sie verlieren ihre Persönlichkeit, den Respekt vor sich selber. Ein Professor etwa wird sich mit dem begnügen müssen, was in seinen Büchern steht und darf keinen Zentimeter davon abrücken. Zahlt er diesen Preis, wird er seine Ruhe haben und seinen materiellen Komfort retten können. Der Preis dafür ist die Unterjochung, die Versklavung. Öffentlich darf niemand mehr reden, aber im Geheimen tragen viele dazu bei, die Massen zu informieren, sie zu erziehen, ihnen von der Gerechtigkeit zu erzählen. Nicht nur die Arbeitslosen bilden die Opposition, sondern auch Leute, die hart arbeiten. In den türkischen Großstädten gibt es Gefängnisse, die für politische Häftlinge reserviert sind und die direkt der Autorität der Militärs unterstehen. Das Leben in diesen Gefängnissen ist ein wahrer Albtraum. Alles wird dem Rhythmus der Armee angeglichen. Alles wird dafür getan, die Leute zu vernichten, ihre Gehirne zu waschen, ihre traditionellen Denkweisen zu zerstören. Wenn nun ausländische Delegierte türkische Gefängnisse besuchen, bringt man sie mit Leuten zusammen, die schon so sehr gepeinigt wurden, dass sie jeden Widerstand aufgegeben und sich dem System ergeben haben. Sie haben auch nichts mehr zu sagen. Auch die Exilierung ist in der Türkei eine sehr geläufige Strafe.

Als Herausgeber einer politischen und kulturellen Monatszeitschrift von zwölf Nummern wurde ich zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis wegen kommunistischer Propaganda verurteilt. Für zehn dieser zwölf Nummern hat es einen Prozess gegeben. Für vier Ausgaben ist das Urteil schon gesprochen, die anderen sind noch hängig. Schon nur für meine Ansichten stehen mir beinahe hundert Jahre Gefängnis zu. Der Laizismus des türkischen Staates ist eine Realität. Weder im Strafgesetzbuch noch in der Verfassung ist die Religion verankert. Zur Zeit des Osmanischen Reiches stützten sich die Gesetze allerdings noch auf den Koran und auf die Regeln des Islams. Die vollkommen klare Trennung zwischen Kirche und Staat ist für die Türkei allerdings eine Neuerung. Ein Fehler war, dass man das Volk unter Androhung von Repression zwingen wollte, diese Neuerungen anzunehmen. Da hat sich eine ganz normale Reaktion gebildet, die Leute wurden in ihrer religiösen Situation radikalisiert oder mehr noch in Sekten gedrängt. Man kann die Rolle des Islams als antikommunistisches Bollwerk nicht leugnen. Aber mit der Hypothese, in der Türkei Leute zu zwingen, zum Islam zu wechseln, um Modernisierungen durchzusetzen, kann ich mich nicht anfreunden. Man kann nur darauf warten, dass die wirtschaftliche Situation einen Mentalitätswechsel bewirkt. Ohne wirtschaftliche Prosperität nämlich kann man den Schleier nicht aus dem türkischen Alltag verbannen. Das ist nur möglich in einer Zeit der wirtschaftlichen Blüte, die mit überzeugenden Resultaten aufwartet. Nur auf diesem Weg wird man nach und nach die Religion zurückdrängen können, aber sonst kann man nichts machen.

Der 12. September, das Datum des Militärputsches, hat für mich nicht sofort eine Veränderung bewirkt. Diese hat sich über drei Monate hingezogen. Während dieser Zeit haben mich die Militärs vollkommen ignoriert. Ich wurde im gleichen Gefängnis belassen, in dem ich vor dem Putsch war. Erst im Dezember wurden ich und vierzehn meiner Freunde mit einer Eskorte von hundert Polizisten auf verschiedene Gefängnisse des Landes verteilt. Man hat mich in eines mit Halbfreiheit verlegt. Den Grund habe ich erst später begriffen. In diesem halboffenen Gefängnis waren die Faschisten in der Mehrheit. Man hatte sich vielleicht vorgestellt, ich würde das Opfer eines Attentats von anderen Mitgefangenen. Doch nach und nach gelang es mir wieder, gewisse Privilegien zu gewinnen und die Mitgefangenen auch davon profitieren zu lassen. Der 12. September hat für mich also keine allzu große Änderung gebracht. Nur einen Ortswechsel. Es war nicht einfach. Kein Gefängnisdirektor wollte mich haben. Man hat mich sogar drei Monate in einem Spital in Istanbul untergebracht, um ein Gefängnis zu finden, das mich aufnehmen würde. Es ist noch zu früh dafür, öffentlich über meine Flucht zu reden. Yilmaz Güney, 21. April 1982.

Kurzfilmographie

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