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3.4 Anmerkungen von Yilmaz Güney zum Film »Yol«

In der Zeit nach dem faschistischen Staatsstreich in der Türkei vom 12. September 1981 sind im Zeichen repressiver Sofortmaßnahmen in allen Bereichen des sozialen Lebens auch die Urlaubsprivilegien in halboffenen Gefängnissen bis auf weiteres gestrichen worden. Um auf einen Urlaub hoffen zu können, muss ein Häftling mindestens ein Drittel seiner Strafe verbüßt haben und darf zu keinen Klagen Anlass gegeben haben. Beschimpfungen, Misshandlungen, Erniedrigungen, Zwangsarbeit und Willkür sind im Gefängnis tägliches Brot. Häftlinge, die um einen Urlaub bangen, bleibt nur die Wahl: Resignation und völlige Unterwerfung. Eines schönen Tages erklärt die Strafvollzugsbehörde, dass Urlaubstage wieder gewährt werden sollen. Ein Traum erfüllt sich für einige Häftlinge. Freude und Traurigkeit, Überschwänglichkeit und bange Vorahnungen vermischen sich. Sie werden, so denken die Häftlinge, für einige Tage alles wiederfinden, was ihnen während Jahren so sehr gefehlt hat. Aber sind im Leben Schicksalsschläge nicht vorgezeichnet, Fallen nicht gestellt? Ausgehend von der Situation und den Beziehungen von fünf Häftlingen auf Urlaub versucht »Yol« die Lebensumstände der Menschen in der Türkei nachzuzeichnen, den Widerstand aus dem Volk, besonders den Widerstand jener Menschen, die als Angehörige der kurdischen Nation leiden, die Situation der Frau in der türkischen Gesellschaft und die schlimmen Folgen einer patriarchalischen Moral. Dies alles im Versuch, die Maschen der Zensur zu umgehen. Schmerz, Hass, Liebe, Gewissensbisse und Hilflosigkeit, alles findet seinen Platz im Strudel des Lebens. Manchmal im Innersten, manchmal in den oberflächlichsten Redensarten.

Selbstachtung drängt einige, die Resignation zu verweigern, motiviert sie zu trotzen, aufzubegehren, Saat für künftige, große Revolutionen zu setzen. Diese Heldentaten stehen selten im Vordergrund. Sie werden auf bescheidene Art erzählt. »Yol« erzählt in erster Linie die Geschichte dreier Personen: Seyit Ali, Nehmet Salih und Omer. Der jüngste der Häftlinge auf Urlaub, Yusuf, wird bereits zu Beginn der Geschichte wieder verhaftet. Er hat seine Papiere verloren. Nach Gaziantep zu seiner Familie wird er nicht gehen können. Sein Geschenk für seine Liebste, einen Kanarienvogel, muss er einem Boten übergeben. Mevlût, der fünfte Held des Films, kann sich auch nicht über die Widersprüche und Zwänge einer patriarchalischen Gesellschaft hinwegsetzen. Auf ihn und seine Verlobte und auf ihre Leidenschaft warten viele Barrikaden. Und dabei hat er sie doch so sehr vermisst. Das Leben außerhalb der Gefängnismauern scheint ihm keinen Deut besser. Mevlût fühlt sich immer unter Beobachtung, angekettet. Doch die Mauern in seiner zivilen Gefängniswelt sind nicht aus Stein, sondern gepflastert mit festgefahrenen Traditionen und heuchlerischer Moral. Die drei Hauptakteure Seyit All, Mehmet Salih und Omer werden vom Leben gebeutelt. Wie waren sie voll von Hoffnung, als sie die Mauern des Gefängnisses hinter sich ließen! Das waren Illusionen! Der Urlaub war zwar kurz. Doch für diese Zeit wird ihnen der Duft der Freiheit um die Nase wehen. Sie dachten, eine Woche könnte genügen, um sie all den Kummer und die Demütigungen vergessen zu lassen. Umso größer war ihre Enttäuschung. Zum Teufel mit dieser Freiheit! Unter dem Joch sozialer, wirtschaftlicher und moralischer Zwänge bleiben sie bloß Marionetten eines unbeeinflussbaren Schicksals. Was soll man da machen? Mehmet Salih, erschossen von seinem Schwager, muss die Antwort schuldig bleiben. Doch Seyit und Omer kämpfen mit dem Rücken zur Wand. Omer kehrt nicht ins Gefängnis zurück. Sein Bruder wurde von Zöllnern erschossen, er muss sich um dessen Familie kümmern. Er zieht es deshalb vor, jung und ohne Scham zu sterben als alt und erniedrigt. Verfolgt vom Tod seiner Frau, fühlt sich Seyit Ali zerrissen und gevierteilt vom unabwendbaren Schicksal. Soll er ins Gefängnis zurückkehren? Er weiß nicht, was er tun soll. Seine Hilflosigkeit und seine Gewissensbisse quälen ihn ohne Unterbruch. Der Zug führt ihn in die Ferne, in ein ungewisses Schicksal. Yilmaz Güney